„Nationalismus, der die Würde verletzt, gehört verurteilt“

Interview

Weltweit wächst die Zahl populistischer Staatschefs – auch in vielen asiatischen Ländern ist das der Fall. Wie gelingt es ihnen, die Menschen für ihre Ideen zu mobilisieren? Im Interview bietet der philippinische Politikwissenschaftler Bonn Juego Erklärungsansätze für den Aufstieg rechtspopulistischer Politiker/innen.

Asien: Nationalismus. Illustration

Ein Interview mit Bonn Juego geführt von Ella Soesanto und Fabian Heppe.

Donald Trump oder Rodrigo Duterte, Victor Orban oder Hun Sen ‑ wie in der westlichen Welt sind auch in Asien populistische Politiker mit einer nationalistischen Agenda auf dem Vormarsch. Wie erklären Sie ihre Popularität?

Die Beliebtheit von populistischen Politiker/innen und nationalistischen Bewegungen resultiert aus der langwierigen globalen Krise der liberalen Demokratie und des neoliberalen Kapitalismus. Wir befinden uns an einem historischen Punkt, denn die Hegemonie des amerikanisch-europäischen Liberalismus wird zur gleichen Zeit von Kräften der politischen Linken und der politischen Rechten in Frage gestellt. Asiens Gegenwart und Zukunft werden von diesem Wandel bestimmt. Die aufkommende nationalistische Ideologie in Teilen Asiens kann zugleich als Symptom und als Antwort auf diese Krise verstanden werden.

Wie sehen die asiatischen Antworten genau aus und haben sie Gemeinsamkeiten?

Es ist wichtig, sich Asiens Vielfalt und Entwicklung vor Augen zu führen, um soziale Prozesse nicht schlankerhand zu verallgemeinern. Die Wiederkehr des Nationalismus in unterschiedlichen Teilen Asiens ist nur mit Blick auf ihre jeweiligen historischen Kontexte zu verstehen. In China drückt sich die Idee des Nationalismus in der wirtschaftlichen Strategie und den internationalen Beziehungen der Kommunistischen Partei Chinas aus. Xi Jinpings chinesischer Traum, allen voran die „Belt-and-Road-Initiative“, ist eine Außenpolitik, die auf Chinas Binnenkonjunktur abzielt. Sie soll für eine Wiederbelebung der Nation sorgen. Im Fall von Narendra Modi und seinem hindu-nationalistischem Block in Indien ist der nationalistische Diskurs bestimmt durch politische, ethnische und kastenspezifische Interessen.

Nationalistische Bewegungen treten also in Asien mit unterschiedlichen Narrativen auf – angefangen von ethno-religiösen Ideologien in Indien und Myanmar über einen historischen Revisionismus in Japan bis hin zur Idee der Rassenreinheit in Korea. Bisher haben die Aktivitäten dieser reaktionären sozialen Kräfte jedoch weder zur Verbesserung der Lebensbedingungen für die Menschen noch der internationalen Beziehungen beigetragen.

Dabei zeigt die Geschichte Asiens, dass Nationalismus auch zu einem positiven Wandel führen kann. So wurde beispielsweise der Aufstand gegen die Kolonialherren in Indien in den 1940er Jahren maßgeblich von der Idee der nationalen Souveränität getragen. Was ist dieses Mal anders? 

Die Idee des Nationalismus kann positiv verstanden werden, wenn sie lediglich als ideologisches Instrument eingesetzt wird, um ein größeres, befreiendes Ziel zu erreichen und kein politischer Selbstzweck ist. Der Nationalismus Mahatma Gandhis Unabhängigkeitsbewegung ist nicht dasselbe wie die extrem nationalistische, rassistische und nativistische Agenda von rechtsextremen Gruppen.

Historisch betrachtet war der Nationalismus in einigen Entwicklungsländern Asiens progressiv, weil er eine Widerstandsbewegung im Geiste des Anti-Imperialismus darstellte. Er war eher inspiriert von einem nationalen, anti-kolonialen Bewusstsein als von der bösartigen Vorstellung, eine bestimmte Rasse vergrößern zu wollen.

Insofern war Nationalismus bis zu einem gewissen Grad notwendig im Kampf gegen fremde Besetzer. Wie hat diese Zeit der Dekolonialisierung zum Nationalismus in Asien von heute geführt?

Die Dekolonialisierung in Asien ist noch lange nicht abgeschlossen. Europa und die USA sind weiterhin davon überzeugt, dass sie als Vorbilder für die Welt Modernität, Fortschritt und Aufklärung bringen. Noch wichtiger ist aber, dass der Prozess der Dekolonialisierung zu einer „neuen Art des Kolonialismus“ geführt hat, bei dem asiatische Länder in die globalen Produktionsketten und die internationale Arbeitsteilung eingebunden sind. Als Nationalstaaten in der Peripherie dienen sie den kapitalistischen Zentren. Ebendiese Ungleichheiten tragen wesentlich zur Popularität nationalistischer Parteien und ihrer Rhetorik bei.

Nur rechtspopulistische Politiker scheinen von der aktuellen Krise zu profitieren. Warum schaffen sie es, im Gegensatz zur liberalen Linken, die Massen in Asien zu mobilisieren?

Aus dieser Krise ist bisher noch kein ideologisches Lager eindeutig als Sieger hervorgegangen. Die liberalen Eliten kämpfen hartnäckig darum, ihre Machtposition in der Gesellschaft zu erhalten und Teile der politischen Linken versuchen ihr eigenes Programm als Alternative zu präsentieren. Allerdings schaffen es die Rechtspopulisten in Asien bisher am besten, den Zeitgeist zu erfassen. Es gelingt ihnen, Alltagsprobleme wie ein ineffizientes öffentliches Transportwesen oder Straßenkriminalität ernst zu nehmen und gleichzeitig auch die großen sozialen Probleme wie die koloniale Vergangenheit, Korruption oder Klassenungleichheit anzusprechen.

Die Botschaften der Populisten stehen dabei in Einklang mit den Erfahrungen der Menschen und adressieren ihre legitimen Ängste, Ressentiments, Hoffnungen und Sorgen. Sie konstruieren eine Sprache ‑ und begleiten diese durch entsprechende Bilder in den sozialen Medien ‑, die eine hohe emotionale Wirkung entfaltet. Ironischerweise hat sich die politische Rechte bei ihren Anti-Establishment-Slogans am linken Diskurs bedient.

Darüber hinaus sind die historischen Widersprüche innerhalb der liberalen Demokratien sichtbar geworden, vor allem in Ländern wie Thailand, den Philippinen und Indonesien, die gesellschaftliche Aufstände durchlebt haben. Die Prozesse der Demokratisierung in Asien haben sich zu sehr auf die Durchsetzung liberaler Ideale konzentriert, ohne dabei sozioökonomische Gleichheit zu erreichen oder die Solidarität unter den Menschen zu fördern.

Viele der aktuellen Staatsführer in Asien sind Männer, die in der Öffentlichkeit durch frauenfeindliches Verhalten aufgefallen sind. So äußerte Pakistans Präsident Imran Khan z. B. dass Feminist/innen die Rolle der Mutter degradieren, während Präsident Duterte Beifall für seine Vergewaltigungswitze erntete. Was hat dies zur Folge?

Einige rechte nationalistische Gruppen verfolgen eine konservative Politik. Die konservative Vorstellung der Nationsbildung umfasst eine Wiederherstellung kultureller Traditionen - einschließlich eines patriarchalischen Systems, das männliche Privilegien aufrechterhält und Frauen sowie sexuelle Minderheiten unterdrückt. Populistische Führer und ihre Unterstützer normalisieren Machogehabe, Frauenfeindlichkeit und eine homophobe Sprache, wodurch ein Klima entsteht, das physische Gewalt gegen Mädchen, Frauen und sexuelle Minderheiten legitimiert.

Bis jetzt haben Dutertes frauenverachtende und homophobe Kommentare keinen substanziell negativen Effekt auf seine Beliebtheitswerte. Selbst Teile der Frauen- und LGBTQI-Bewegung gehören zu seinen Unterstützenden.

Eine unverwechselbare Eigenschaft des Populismus ist seine Fähigkeit, eine breitgefasste Politik zu formulieren, die Menschen über Klassengrenzen hinweg anspricht und zur gleichen Zeit einen Teile-und-Herrsche-Effekt auf mögliche oppositionelle Gruppen hat. Populistische Politiker/innen – sowie rechte nationalistische Bewegungen – sind in der Lage, Identitätspolitik zu ihrem Vorteil zu nutzen. Sie ziehen dabei einen unkonventionellen Umgang mit Normen politischer Korrektheit vor, was ihnen ermöglicht, öffentlich populäre Haltungen zu vertreten und sexistische Meinungen zu äußern, die tief in der Psyche vieler Menschen verankert sind. Das Spiel mit der Identitätspolitik ist im besten Fall eine Ablenkung von fundamentalen sozialen Konflikten und schlimmstenfalls eine Strategie, um die Solidarität der Unterdrückten untereinander zu brechen.

Neben der Genderpolitik polarisiert vor allem auch die Flüchtlingspolitik. In Europa heizt die so genannte Flüchtlingskrise die nationalistische Debatte an und stärkt anti-liberale Kräfte. Wie sehen Sie diesen Diskurs?

In Europa hängt die jüngste Popularität von rechtspopulistischen und Anti-Migrations-Parteien eng mit der Flucht- und Migrationskrise zusammen. Und dennoch übersehen die nationalistischen Rechten, die Liberalen und sogar die politische Linke im Westen, dass die Flüchtlingskrisen in Afrika und im Mittleren Osten eine Folge der amerikanischen und europäischen Außenpolitik sowie ihrem Einmarsch in diese Länder sind.

Dies müsste im öffentlichen Diskurs viel stärker betont werden. Anstatt über offene oder geschlossene Grenzen zu debattieren, müssten die politischen Kampagnen der Linken in Europa darauf abzielen, die imperialistischen Kriege zu beenden, Reparationen für Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu fordern und die Produktivkräfte in den Entwicklungsländern zu fördern. Das könnten wirkungsmächtige Alternativen zum rechtspopulistischen Diskurs der extremen Nationalisten sein.

Spielt die Frage der Flüchtenden auch eine Rolle in den nationalistischen Entwicklungen in Asien?

In Asien haben die Probleme, die durch Flucht und Migration verursacht werden, oft ihren Ursprung in interner Vertreibung aufgrund von Konflikten, Armut, Umweltkatastrophen und politischer Verfolgung. Andere können auf das koloniale Erbe und die Umsiedlung ethnischer Gruppen zurückgeführt werden. Ein prominentes Beispiel dafür sind die Rohingya-Flüchtlinge. Die Erfahrungen mit Flucht und Migration können daher sowohl in Europa als auch in Asien nicht auf das Konzept des Nationalismus verkürzt werden.

Die nationalistische Ideologie nährt sich aus anderen Erfahrungen. In ihr überlappen sich politische, ethnische, religiöse, geschäftliche und wirtschaftliche Interessen. Wenn man sich das Verhalten der politischen Rechten gegenüber Geflüchteten und Migrant/innen anschaut, sollte man mehr Aufmerksamkeit auf die Volkskrankheiten Islamophobie, Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Diskriminierung verwenden als es bloß mit Nationalismus zusammenzufassen.

Trotzdem hat die anhaltende humanitäre Krise von fast einer Million geflüchteter muslimischer Rohingya in Myanmar nationalistische Reaktionen verstärkt.

Seit den 1960er Jahren haben die herrschenden Eliten Myanmars ihr Projekt der „Burmanisierung“ verfolgt, eine Politik - und eine gewalttätige Strategie - der Assimilierung ethnischer Minderheiten in die Mehrheitskultur (burmesisch), -religion (Buddhismus) und -sprache (Burmesisch). Die Burmanisierung bildete lange die Basis für die Nationalstaatsbildung Myanmars und ist auch in der vermeintlichen Demokratisierung des Landes unter Staatsberaterin Aung San Suu Kyi tief verwurzelt. Die Bevölkerung unterstützt das Vorgehen der burmesischen Regierung und des Militärs gegen die staatenlosen Rohingyas.

Buddhistische Nationalisten setzen sich gegen die Staatsbürgerschaft der muslimischen Rohingya ein, weil sie ein Interesse an der Burmanisierung haben - religiös wie kulturell. Gleichzeitig findet der Nationalismus oft dort sein Ende, wo konkrete politische, ökonomische oder soziale Interessen auftreten. Aung San Suu Kyi und andere staatliche Funktionäre sind offensichtlich keine Nationalisten, wenn es um die Neoliberalisierung der Wirtschaft und der Umwelt Myanmars geht.

Während der asiatische Nationalismus staatliche Souveränität und Ethnizität betont, basiert die aktuelle internationale Ordnung auf der Überzeugung, dass alle Menschen gleich und Menschenrechte universell seien. Untergraben nationalistische Anschauungen die Idee der Menschenrechte?

Nationalistische Vorstellungen widersprechen nicht notwendigerweise den Idealen von staatlicher Souveränität und Menschenrechten. Die Moral einer nationalistischen Ideologie hängt von ihren Absichten und Folgen ab. Der nationalistische Kampf Ho Chi Minhs für die Unabhängigkeit und Befreiung Vietnams war etwas vollkommen anderes als der völkermörderische Nationalismus Pol Pots in Kambodscha.

Nationalismus ist dann moralisch legitim, wenn er die staatliche Souveränität und das Selbstbestimmungsrecht der Völker verteidigt. Wird er aber als Ausrede benutzt, um ureigene Rechte und die Würde des Menschen zu verletzen, muss er verurteilt werden. Die Geschichte ist voll mit tragischen Beispielen, wie Imperialmächte die Menschenrechte missbrauchen, um in ihrem Namen souveräne Staaten zu zerstören.

1999/2000 intervenierte die UN-geleitete, multinationale Schutztruppe INTERFET (Internationale Streitkräfte Osttimor), um den Genozid der indonesischen Regierungsmilizen an den Osttimoresen aufzuhalten. Dies war ein positives Beispiel, wie das universelle Prinzip der Menschenrechte in Südostasien geschützt wurde. Wie verbindlich sind die Menschenrechte in Asien heute?

Interessanterweise hat sich die Debatte um „asiatische Werte“ als einer der Hauptkritikpunkte an der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR) entwickelt. Ihre lautesten Verfechter waren Asiens autoritäre Herrscher - vom späten Lee Kuan Yew in Singapur und Malaysias Mahathir Mohamad in den 1990er Jahren bis hin zu Rodrigo Duterte heute auf den Philippinen.

Mit ihrer Argumentation, Rechte müssten länderspezifisch implementiert werden, attackieren sie die grundlegenden Eigenschaften der AEMR - dass Menschenrechte universell, unveräußerlich, unteilbar und voneinander abhängig sind. Obwohl ihre Kritik an den Doppelstandards der Vereinigten Staaten und Europas in der Menschenrechtspraxis berechtigt ist, rechtfertigt das nicht, ihre menschenrechtlichen Verpflichtungen zu brechen. Diverse asiatische Staaten haben aktiv an der Formulierung der AEMR mitgewirkt. Die Erklärung war sogar ein erster Bezugsrahmen für asiatische Staaten in ihren Dekolonisierungs-, Staaten- und Nationsbildungsprozessen.


Bonn Juego forscht und lehrt zu Themen Politische Ökonomie, Entwicklungsstudien und internationale Beziehungen an der Universität Jyväskyala in Finnland. Seine jüngsten Publikationen und Forschungsanstrengungen beziehen sich auf Ost- und Südost-Asien, den Globalen Süden und die nordisch-asiatischen-Beziehungen. Im Herbst 2018 war er Visiting Fellow am Südost-Asien Forschungszentrum der Universität von Hong Kong.